Grundsätzliche Erläuterungen zu dem Buch mit den sieben Siegeln und den Analogien zwischen den sieben Siegelnvisionen, Posaunenvisionen und Zornschalenvisionen

Um die Siegelvisionen im 6. Kapitel in ihrem grossen Zusammenhang besser zu verstehen, ist es hilfreich, ein Blick auf die vorangehenden Szenen in der Johannesoffenbarung zu werfen. Diese zeigen die zentrale Bedeutung des Buches mit den sieben Siegeln.

Die Rolle des himmlischen Buches - das Lamm ist würdig, das Buch zu öffnen
Johannes schaut auf Patmos den Menschensohn inmitten der sieben Leuchter, welche die sieben Gemeinden bedeuten (1. Kap.). An diese Gemeinden hat Johannes je ein Schreiben zu richten, das die Gläubigen in allen Phasen der Nachfolge bestärken soll (2. Und 3. Kap.). Nun beginnt die eigentliche Apokalypse, die Offenbarung. Johannes wird im Geist in den Himmel entrückt und schaut Gottes Thron mit all den Wesen und Gestalten, die diesen umgeben (4. Kap.). Dann kommt unvermittelt das geheimnisvolle Buch in den Blick des Sehers. Er sieht in der rechten Hand dessen, der auf dem sitzt, ein Buch, innen und hinten beschrieben und mit sieben Siegel versiegelt. Der starke Engel tritt auf und verkündet mit lauter Stimme: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen? Da niemandem im Himmel diese Würde zukommt, weint Johannes, aber einer der Ältesten tröstet ihn und sagt: Weine nicht! Siehe, überwunden hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Wurzelspross Davids, und er kann das Buch und seine Siegel öffnen. Sodann sieht Johannes das Lamm «wie geschlachtet, mit sieben Hörnern und sieben Augen, welche die sieben Geister Gottes bedeuten, die ausgesandt sind auf die ganze Erde». Als dieses Lamm das Buch aus der Rechten Gottes übernimmt, wird im Himmel das neue Lied angestimmt, in das alles Kreaturen einstimmen. An keiner anderen Stelle ist der Lobpreis, die Anbetung aller Geschöpfe so feierlich ausgemalt. Die himmlische Liturgie nimmt in ihrem Lobpreis die höchsten Verheissungen vorweg, welche für das Ende vorgesehen sind. Das Lamm hat durch seine Opfertat Menschen aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen erkauft und sie «für Gott zu einem Königreich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden» (5. Kap).

Nun stellt sich die Frage nach dem Buch und dessen Inhalt, der in dem 6. Kapitel bis zum sechsten Siegel eröffnet wird. Schauen wir vorerst nicht auf diese Bilder, die mit der Eröffnung der Siegel sich zeigen, sondern auf die Szene, wo das Buch erstmals erscheint.
Der Vergleich des 4. und 5 Kapitels gibt uns einen wichtigen Hinweis über das, was in diesem Buch stehen muss. Im 4. Kapitel schaut Johannes die Welt Gottes in ihrer ewigen Anbetung und himmlischen Feier. Da ist die Geschichte der Erde, auf welcher die Geschöpfe ihre Bewährungen durchmachen, nicht im Blick. Es handelt sich hier um die Schau Gottes vor und über aller Schöpfung.
Dann kommt mit dem 5. Kapitel eine Spannung im Himmel auf. Der starke Engel weiss um die Bedeutung dieses Buches für die Geschicke der irdischen Schöpfung. Und auch Johannes versteht sofort in seinen Emotionen, dass es in diesem Buch um das Schicksal der Erde handelt. Die Ratlosigkeit im Himmel zeigt, dass die Schöpfung durch die himmlischen Wesen allein nicht gelenkt und vollendet werden kann. Dazu ist eine Macht nötig, welche die Erdenwelt kennt und ihr Schicksal auf sich genommen hat. Das ist der Wurzelsprosse Davids, der ewige Messias Jesus, der sein Leben für die Seinen hingibt.

Der Inhalt des Buches: Bloss sieben Phasen mit Plagen vor dem Ende?
Das himmlische Buch mit seinen sieben Siegeln enthält die Schicksale der Erdenwelt, doch noch ist offen, was diese Schicksale beinhalten. Viele Ausleger deuten die Inhalte des Buches endzeitlich. Dem entsprechend sind in Buch nur die letzten Schicksale der Welt vor ihrem Untergang, ihrer Auflösung, beschrieben. Das Lamm ist würdig, diese letzten Geschehnisse in Gang zu setzen, indem es ein Siegel nach dem andern öffnet.
Lohmeyer meint, dass die Siegelvisionen entsprechend den die Endzeit einleitenden Plagen aus der kleinen Apokalypse (Markus 13) gebildet worden sind: 1. Kriege; 2. Allgemeine Kämpfe; 3. Erdbeben; 4. Hungersnöte; 5. Verfolgung der Gläubigen; 6. Gräuel der Verwüstung; 7. Erschütterung des Firmaments. Der Seher hätte diese in der Tradition gegebenen Zeichen des Endes neu gestaltet und sie mit dem Lamm, mit den vier Wesen aus dem 4. Kapitel und den farbigen Pferde aus Sacharia 1,8 verbunden. Frühere Deutungen, welche den ersten Reiter mit dem Sieg des Messiasreiters (vergl. Apk. 19,11-16) oder des Evangeliums verbunden haben, werden neuerdings verworfen. Der erste Reiter wird auf Partherheere gedeutet, welche die römische Herrschaft zerstören könnten und so die Endzeit einleiten. Auch für die andern Bilder (Kriege, Hungersnot, Pest) werden zeitgeschichtliche Bezüge gesucht, gefunden und wieder verworfen.
In diesem Sinne ist der Inhalt des himmlischen Buches mit seinen sieben Siegeln eine wenig frohe Botschaft. Das Lamm würde durch das Öffnen der Siegel nur Unfriede, Zerstörung und Tod auslösen, wobei mit dem 5. Siegel auch die Märtyrer im Himmel nur darauf warten, dass ihr Tod gerächt wird, was dann im 6. Siegel mit kosmischen Katastrophen geschieht. Vor dem letzten Siege öffnet sich der Blick auf die grosse Schar der Erlösten, womit eigentlich die Apokalypse abgeschlossen sein könnte.
Mit dieser Sicht bleiben die Bilder von den vier apokalyptischen Reitern, so inspirierend sie auch in der Kunstgeschichte gewirkt haben, für den Glauben in der Gegenwart nicht von Belang. Johannes hat dann in der Erwartung des baldigen Endes ein altes Schema von endzeitlichen Plagen, die dem Tag Gottes vorausgehen, christlich neu gestaltet. Ob er damit schon an Erfahrungen seiner Zeit anknüpft (zeitgeschichtliche Deutung) oder unabhängig von damaligen Ereignissen das Schema verwendet für die kommende Endzeit - in beiden Fällen sagt uns die Bilderreihe bloss, dass Kriege, Hungersnöte, Pest und Tod durch wilde Tiere vom Himmel her gewollt und ausgelösst sind und als Zeichen des baldigen Endes gedeutet werden sollen.
Nach 2000 Jahren Geschichte mit alle dem, wird man sich hüten, diese Plagen allzu schnell als Zeichen des Endes zu deuten. Die Schwärmer werden es weiterhin tun.
Auffallend ist, wie die wissenschaftlichen Exegeten an den Bildinhalten vorbeigehen. Stets suchen sie Vorbilder im alten Testament und in den grossen orientalischen Religionen. Doch selten dienen diese Herleitungen dazu, die von Johannes neu geschauten Bildfolgen zu deuten. Oft wird gesagt, dass Johannes alte mythische, teils astrologische Traditionen aufnimmt, aber sie selber schon nicht mehr verstanden habe.

Das Buch als Schlüsselbild zu den Zeitaltern der Erde
Inspiriert von den anthroposophischen Deutungen der Apokalypse tendiere ich dahin, das Buch in der Rechten Gottes als «Buch des Lebens» für die Erde zu sehen, darin die ganze Geschichte der Erde mit den Menschen beschrieben ist: ihre Entstehung, ihr Bestehen und ihr Vergehen.
Je nach Zusammenhang der «Lektüre» des himmlischen Buches, fällt auch der Blick auf den Inhalt anders aus. Johannes erlebt eine Entrückung in den Himmel, wo ihm durch den Engel des Herrn Schlüsselerfahrungen ermöglicht werden über den Gang der Welt und die Rolle des Messias. Er schaut die ewige Welt Gottes (4. Kap.) in Anbetung. Doch in diese Ruht tritt mit dem siebenfach versiegelten Buch die Frage nach dem Schicksal der irdischen Menschheit. Das Bild vom Buch im Himmel verwendet die jüdische Tradition nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die ganze Menschheit. Wie vor aller Zeit in Gottes Geist jeder Mensch gegenwärtig ist mit seiner Lebensgeschichte (Buch des Lebens), so ist auch die Erde mit ihren Entwicklungsphasen in Gottes Geist vorgebildet, präexistent und ewig. Johannes schaut nun im Geiste das Mysterium der Erdentwicklung, dass nämlich einer von Anfang an als würdig erfunden wird, ein Siegel nach dem andern zu öffnen. Christus, der ebenso ewig und präexistent ist, führt durch alle Phasen der Erdentwicklung. Er ist der Herr der Geschichte. In diesem Sinne heisst Apokalypse primär: Einweihung in die Hintergründe alles irdischen Geschehens, Schau der göttlichen Vorhaben und Pläne, Offenbarung der letzten Dinge. Apokalypse wird gemeinhin mit Weltuntergang in Beziehung gebracht. Das trifft aber nur insoweit zu, als mit dem Weltuntergang der Durchbruch der Wahrheit, des vor Gott Bestand habenden Lebens, verbunden wird. Der Apokalyptiker zeugt vom Ende Kraft seines Einblicks in die ewigen Anfänge. Weil er Gottes Welt und Pläne sieht, weiss er, was Vergehen muss und was Bestand haben wird.
So geht es in der Apokalypse, die Johannes auf Patmos schaut, zwar um endzeitliche Geschehnisse, doch diese können nicht isoliert aus dem Buch mit den sieben Siegeln herausgelesen werden. Johannes schaut mit dem Ende auch das Letzte, das Ganze der Erde, denn im Himmel ist auch das Ende in das Ganze geborgen, sowie auch das Ganze im Anfang war. Gottes Buch ist ewig und über aller Zeit und enthält doch alle Zeiten und Schicksale der Schöpfung.
Dass das Buch mit den sieben Siegeln das Ganze einer Zeitentwicklung umfasst, das zeigt die Zahl Sieben. Auch Bousset schreibt dazu: «Wenn nun im folgenden die eschatologischen Ereignisse in jeweilig sieben Akten sich entwickeln und diese wieder jedes Mal als in 4 + 3 geteilt erscheinen (vergl. auch die Posaunen- und Schalen-Plagen), so liegt letztlich dem die weit verbreitete Vorstellung zu Grunde, dass der gesamte Weltlauf sich in vier resp. sieben Zeitaltern abspielt.» (Bousset, 263)
Dass mit den Siegelvisionen die umfassende Geschichte der Erde in den Blick fällt, zeigt auch die Tatsache, dass aus der Stille des siebten Siegels der Posaunenzyklus entsteht. Dazu Bousset: «Das Schweigen ist nicht etwa der Inhalt des siebenten Siegels, sondern wie die meisten Ausleger richtig erkannt haben, ist dieser Inhalt in dem Ganzen, das nun folgt, enthalten, also in der Enthüllung der sieben Posaunen. Auch von den Kritikern, die die Siegel- und Posaunen-Visionen auf verschiedene Quellen verteilen, wird das zugestanden werden, dass nach der Absicht des Redaktors die sieben Posaunen aus dem siebenten Siegel hervorgehen sollen. » (Bousset 291)
Wenn wir nun damit vor Augen haben, dass der Siegelzyklus letztlich die umfassenden Schicksale der Erdenmenschheit offenbart, der später in kleineren Zyklen differenziert und spezifiziert wird, können wir uns den einzelnen Siegeln und deren Öffnung zuwenden.

Die antike Astrologie hilft nicht weiter
Die bei vielen Exegeten nur angeführten religionsgeschichtlichen Parallelen oder Hintergründe für die Bilder der Pferde und deren Farben, hat Bruce J. Malina in seiner Auslegung der Johannesoffenbarung mit dem Untertitel «Sternenvisionen und Himmelsreisen» ausführlich erforscht und zusammengetragen, allerdings ohne sie für eine aktuelle, zeitgemässe Deutung relevant machen zu können.
Durch viele antike Zitate zeigt Malina, dass die Menschen damals in den Kometen Unglückboten erkannt haben, die ein Unheil voraussagen. Eine ähnliche Rolle spielen die Reiter bei den ersten vier Siegeln.
Dann trägt er die antike Idee der Zeitzyklen vor, wonach jeweils einem Tierkreisbild für eine bestimmte Zeit die Herrschaft zukommt. Diese Herrschaften wurden in der Antike mit spezifischen Vorkommnissen in der Natur verbunden. Sie dienten der Pflanzenzucht und Tierhaltungen. Manila ordnet den Reitern je ein Tierkreisbild zu - in meinen Augen sehr gezwungen: Johannes erfährt «Kometen als Pferde; Sternbilder, die das Jahr kontrollieren (Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion), die hier zu Reitern gemacht wurden; die Attribute von Sterngottheiten einschliesslich von Regulus im Löwen, des Winzermessers der Jungfrau, Waageschalen der Waage, Tod-und-Hades des Skorpion.» (Malina, 140)
Schliesslich will Manila auch noch die Farben der Pferde mit den Planeten Jupiter (glänzendweiss), Mars (rot), Merkur (schwarz) und Venus (fahl) in Beziehung bringen. So meint er, dass Johannes reale Kometen in der Brille seiner jüdischen Astraltradition gedeutet hat: «Die Sequenz der pferdegestaltigen Kometen muss dann zunächst vom Osten (weiss), dann vom Süden (rot), drittens vom Norden (schwarz) und viertens vom Westen (fahl) stattgefunden haben.» (Malina, 142).

Malina trägt zwar mit grossem Fleiss religionsgeschichtliches Material zur Astralprophetie zusammen, aber meines Erachtens übergeht er dabei die jüdischen Bildtraditionen und macht Johannes zu einem Astralpropheten, dessen Visionen bloss mit andern antiken Texten verglichen, aber kaum gedeutet werden.

Die apokalyptischen Reiter
Nun aber zu den apokalyptischen Reitern und den Segelvisionen. Die klassischen Kommentare (Bousset, Hadorn, Ulrich B. Müller und auch Ernst Lohmeyer) sagen - wie bereits oben erwähnt - alle in etwa dasselbe: Hier würden die schon in der kleinen Apokalypse (Markus 13) genannten Zeichen der Endzeit mit den Siegelvisionen verknüpft. Nach dem Blick in die Vorgeschichte des Buches, welches das Lamm nun öffnen kann, muss dieses mehr als bloss die Katastrophen der Endzeit beinhalten. Die Siebenheit der Siegel muss für etwas Ganzes stehen und nicht bloss für ein Ende.
Die Frage der Deutung, speziell der Reiter, spitzt sich zu mit der Erklärung des ersten Reiters, der auf einem weissen Pferd auszieht, um zu siegen und eine Krone hat. Die alte Kirche hat ihn mit Christus identifiziert, einzelne Exegeten mit dem Sieg des Evangeliums. Die von mir gelesenen Kommentare bringen ihn durchgehend mit den Parther-Kriegern in Beziehung, welche damals eine Bedrohung gewesen sein sollen - aber auch eine Hoffnung. Sie allein könnten die Römer besiegen und so das Ende und das Gericht in Gang setzen.
Gegenüber diesen zeitgeschichtlichen Deutungen trägt der Anthroposophe und Priester der Christengemeinschaft Emil Bock ( >>> Literaturhinweis) eine eher phänomenologische Sicht auf die Bilder und erinnert auch an das, was den Szenen voraus geht: Der ganze Himmel wartet darauf, dass jemand würdig ist, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen. Nach Bock wird dann mit der Eröffnung der ersten vier Siegel der Weg des menschlichen Geistes in die Welt der Inkarnation, in die Welt der Dualität und des Todes geschildert. Das Pferd steht für das Denken, das im Anfang noch siegreich und weiss war, dann aber von der Emotion, der Habgier und dem Tod gezeichnet wird und sich dementsprechend verfärbt. Bock weist auf die Funktion der vier Wesen hin, die diesen Prozess auslösen. Diese Wesen, die nach Bock eine Funktion für die Menschwerdung ausüben, übergehen die andern Kommentare.
Auch das 5. und 6. Siegel deutet Bock aus dieser Bewegung des menschlichen Geistes in die irdische Geschichte. Im 4. Siegel ist der Tiefpunkt erreicht, aber viele Seelen beharren da und fallen noch tiefer. Die Seelen, die sich an den neuen Impuls des Aufstiegs halten, leiden und werden zu Martyrern. Sie sind im 5. Siegel sichtbar vor dem Altar, der den Himmel und die Erde verbindet. Beim 6. Siegel manifestiert sich die abfallende Bewegung der Geister in die Materie so mächtig, dass die Natur davon in Mitleidenschaft gezogen wird. Das ist ein Ausblick in die Zukunft.

Sieben Siegel, Posaunen und Zornschalen
Das Verständnis der sieben Siegelvisionen wird massgebend auch für die anderen Visionsreihen: die sieben Posaunen und die sieben Zornschalen. Jedes Mal wird ein siebenfacher Zyklus von irdischen Katastrophen geschildert, wobei gewisse Paralellitäten zu beobachten sind. Die vier ersten Visionen sind jeweils kurz, ähnlich gestaltet und sie drängen auf das hin, was mit den restlichen drei Visionen eröffnet wird. An fünfter Stelle geht es meist um die Gemeinde, die verfolgt wird, im sechsten um die grosse Macht der Feinde, die aber unter das Gericht kommen. Im siebten Bild wird die neue Welt sichtbar und ein neuer Zyklus entfaltet sich. Die hintereinander geschilderten Visionsreihen dürfen nicht linear hintereinander gesetzt werden - eben weil sich drei Mal eine ähnliche Bewegung von der Erschütterung der Erde in den ersten vier Visionen hin zum Geschickt der Menschenwelt in der 5., 6. und 7. Vision zeigen. Doch die Bilder werden immer konkreter, realistischer, irdischer, politischer: Bei den Siegelvisionen ist noch alles kosmisch, grundsätzlich und offen angedeutet, bei den Posaunen sind die Konturen deutlicher, die Unterwelt steigt hervor als schreckliche Kriegsheere, bei den Zornschalen sind die Feinde Gottes beim Namen genannt, aber das Geicht kommt über sie herein. Es ist, als ob mit jedem Zyklus wie mit einem Vergrösserungsglas näher an das herangegangen wird, was in der 5. und 6. Phase beschrieben wird und vom Kampf zwischen den Heiligen und ihren Feinden handelt. Doch auch das Ziel der Welt, die Errichtung der neuen Gemeinschaft im Himmel, wird konkreter. Der himmlische Tempel gewinnt Kontur.
Rowley ( >>> Literaturangabe) erklärt in seinem Buch über die Apokalyptik die drei Siebenerzyklen von Plagen folgender Massen:
«Man hat viel erörtert, ob diese Plagenreihen parallel oder suksessiv aufzufassen sind. Im folgenden Ablauf der Visionen sind sie selbstverständlich suksessiv. Aber das gehört wahrscheinlich zur Darstellungskunst des Verfassers. Gerade wie wenn bei der Besteigung eines Berges der Gipfel nahe zu sein scheint, die nächste Anhöhe aber doch nur den Blick auf eine weitere freigibt, die, wenn man sie erreicht hat, vielleicht wiederum einen andern Gipfel vor Augen rückt, so bietet der Autor dieser Apokalypse dem Leser diese drei aufeinander folgenden Plagenreihen. Jede verspricht, zur Schlussszene des Dramas zu führen, dient aber doch nur dazu, die Spannung zu erhalten und den Ablauf vor dem Schleppen zu bewahren. Darüber hinaus wird das Gefühl für die ungeheure Gewalt der Schlussszene gesteigert, die man erfährt, wenn man diese endlich nach der vorausgegangenen dreifachen Plagenreihe erreicht.»
Von Nutzen ist hier eine tabellarische Übersicht über die 22 Kapitel der Offenbarung, welche die Siebenerreihen in einer Synopse zeigt.
>>> zur Gliederung der Johannesoffenbarung

Diese Vorüberlegungen bringen mich zur Annahe, dass mit dem Siebenerschema etwas Grundsätzliches und Umfassendes der Menschheitsgeschichte ausgedrückt wird. Massgebend für die Heilsgeschichte sind die Phasen 5, 6 und 7. Die ersten vier Phasen handeln von der Naturgeschichte, die letzten drei von der Heilsgeschichte. Aber alle sieben Phasen sind von Gott gehalten. Es ist das Lamm, das von Anfang an alle die sieben Siegel öffnet und so die Weltgeschichte in Bewegung bringt und sie auch durch seine Würde trägt und leitet.

Analogien und Entwicklungen in den Plagenreihen
Um die drei Plagenreihen besser zu verstehen, ist es sinnvoll, sie von ihren Bildern her zu differenzieren, aber auch Analogien zu entdecken.
Die Siegel öffnet das Lamm, die Posaunen werden vor dem Altar den Engeln verteilt, die Zornschalen kommen aus dem Heiligtum selbst. Das sind Nuancen, die entschlüsselt werden müssen. Ebenso frage ich mich, was die auslösenden Symbole sagen: Siegel öffnen, Posaunen blasen, Zornschale auslehren. Auch das sind klar unterschiedliche Bilder, die in der Bildsprache etwas aussagen.
Hilfreich ist es auch, die 3 untereinander aufgezeichneten siebenfachen Bildreihen von oben nach unten und von links nach rechts zu lesen ( >>> siehe Übersicht zu den 22. Kapitel, wo die 7 x 7 Phasen und Zyklen zusammengefassst sind).
Die Siegel sind hier die 2. Phase, die Posaunen die 3. Phase und die Schalen die 5. Phase. Denn offensichtlich spiegeln auch die 7 Phasen der ganzen Apokalypse den Geschichtsplan der Erde. Die Mitte ist die himmlische Frau, die das Kind gebiert und wo das Meer den Drachen hervorbringt. Der ganze Ablauf der Johannesoffenbarung zeigt nach der Mitte dann auch den Zusammenprall der Mächte (5. Stufe), das Gericht (6. Stufe) und die neue Welt (7 Stufe). In diesem Sinn kann der Schalenzyklus der 5. Stufe, dem Zusammenprall der Mächte, zugeordnet werden.
Während bei den Siegeln, den Posaunen und den Zornschalen die Bilder 1 bis 4 jeweils natürliche Katastrophen zeigen, steigert sich in den Bildern 5, 6 und 7 die Auseinandersetzung zwischen den Mächten so, dass sie stets konkreter, irdischer, endzeitlicher werden.
Zu den Bildern 1 bis 4: Hier sind natürliche Leiden und die Schöpfung im Blick. Die vier Siegel bringen durch Reiter: Sieg, Krieg, Teuerung und Pest. Die Posaunen zerstören jeweils einen Drittel der Erde, des Meeres, der Flüsse und der Gestirne. Genauso, aber bereits im Blick auf menschliches Leiden, ebenso die Zornschalen. Das getroffene Land bewirkt Geschwüre, das getroffene Meer und die Flüsse ein grosses Sterben, auch die getroffene Sonne durch die Hitze.
Die Elemente Land, Meer, Flüsse und Gestirne haben eindeutig einen Bezug zu den ersten vier Schöpfungstagen in Genesis 1. Das zeigt, dass mit jedem Plagenzyklus die ganze Schöpfung im Blick ist. Das gilt auch für die 5. Stufe (Wassertiere und Vögel), die 6 .Stufe (Tiere und Mensch) und die 7. Stufe (Sabbat, Ruhe und Feier Gottes).
Zum jeweils 5. Bild: Bei den Siegeln erscheinen die getöteten Zeugen vor dem Altar und bitten um Rache. Bei den Posaunen fällt ein Stern vom Himmel, der die Unterwelt öffnet und Krieger hervorbringt. Bei den Zornschalen zeigt das 5. Bild die Zerstörung des Throns des Satans.
Zum jeweils 6. Bild: Überall kommen die vier Engel vor, welche die Winde an den vier Ecken der Welt bedienen. Diese vier Engel sind übrigens schon in der kleinen Apokalypse benannt: «Und dann wird er die Engel aussenden und die Auserwählten versammeln von den vier Winden her, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels.“ (Mk. 13, 24-27, vgl. das ganze Kapitel und seine Parallelen Mat. 24 und Lk. 21, 5-36)
Beim 6. Siegel werden die vier Engel nach dem Erdbeben zurückgehalten, damit die 144'000 versiegelt werden können und sich ein Blick auf die grosse Schar der Heiligen auftun kann. Beim 6. Bild der Posaunen werden die Engel losgelassen, sodass die Krieger aufziehen. Beim 6. Bild der Zornschalenreihe wird der Euphrat ausgetrocknet, sodass die von Dämonen angeführten Heere sich bei Harmagedon sammeln.
Zum jeweils 7. Bild: Bei den Siegeln die Stille, aus der die sieben Posaunen hervorkommen. Bei den Posaunen der offene Tempel, aus dem die Zornschalen kommen. Bei den Zornschalen der Fall Babylons.
Nach solchen Quervergleichen stellt sich dann die Frage, wie diese hintereinander, also suksessiv aufgeführten Plagenzyklen sich zu einander verhalten, wie sie gedeutet werden sollen.

Entwicklungsdenken und Apokalyptik
Hier stossen wir an eine Grundfrage der aktuellen Auslegung der Apokalyptik. Es geht um den Zusammenprall des Entwicklungsdenkens und der Apokalyptik. Das Entwicklungsdenken beschreibt überblickend und in ruhigen Zeiten die Gesetze des Werdens und Vergehens. Die Apokalyptik schaut den Abbruch der Übung. Gott hat lange genug zugeschaut und der Entwicklung Raum gegeben. Jetzt greift er ein und reisst den Schleier der Täuschungen ab. Die eitle Welt muss fallen im hell einfallenden Licht des kommenden Tages Gottes, der umschmelzt, was keinen Bestand hat und hervorbringt, was Gott seit jeher verheissen hat. Uns ist die Apokalyptik fremd, da für uns die Zeiten andauern und die Welt stabil erscheint. Wir neigen dem Entwicklungsdenken zu. Die Kunst besteht wohl darin, diese Sichtweisen auf einander zu beziehen und die in der Apokalyptik in schnellen Bildfolgen offenbare Endzeit wie ein Totenbuch der Erde zu lesen. Auch die Totenbücher der Ägypter oder der Tibeter zeigen Bilder von der totalen Umwandlung, die mit dem Tod eintreten. Die Lebenden sollen diese Bilder studieren, um die Welt und das Leben in ihren hintergründigen und bleibenden Dimensionen schon hier in der Lebenszeit zu fassen. So will uns die Apokalypse darauf vorbereiten, hier mit den Kräften zu leben, die Bestand haben und in der grossen Auflössung in die Neue Schöpfung übergehen.

Ich erinnere mich an das Schema, das die indische Auffassung von Weltaltern zeigt ( >>> zu der indischen Lehre der sieben Zeitalter). Da haben wir eine klassische Entwicklungslehre. Die Menschheit verfällt mit jedem Zeitalter in grössere Distanz zu Gott, bis im untersten, dunkeln Kali-Yuga die Wende zur Rückkehr kommt. Diese Rückkehr ist von Brahman, dem Weltgeist, schon eingeplant. Die Menschen nähern sich über viele Leben wieder bessern Zeiten, wo sie die Wahrheit eher sehen und ihr Karma zum positiven läutern können.
Genau diese Entwicklungsidee hat die Anthroposophie Rudolf Steiners mit dem Christentum, mit der Idee der Gnade durch Christus, verbunden. Dank Christus und seinem Opfer ist ein Wiederaufstieg der ganzen Evolution möglich. Durch vielfache Verschachtelungen von Siebnerrhythmen beschreibt Steiner in der «Geheimwissenschaft» die Evolution und die Involution der Erde in jeweils sieben Verkörperungen. Jede Erdverkörperung hat selber wieder sieben Phasen und jede der sieben Phasen hat sieben Zeiten. So kommt er leicht zu drei mal sieben Zyklen, welche die Auflösung der Welt zeigen. Genau diese auf verschiedenen Stufen sich abspielenden sieben Phasen der sich auflösenden Welt sieht Steiner in den 7 Siegelzyklen, den 7 Posaunenzyklen und den 7 Zornschalenzyklen gespiegelt. Ich zitiere Fred Poepping: «Diese grosse Erdentranssubstantiation ist es, die uns die Apokalypse in ihren Symbolen beschreibt. In diesem Sinne entsprechen:
die Sendschreiben der physisch-materiellen Erdenentwicklung, wie sie im engeren Sinne in den sieben nachatlantischen Kulturperioden sich abspielen.
Die Siegel der sich verätherisierenden Erde, die zum astralischen Zustand übergeht.
Die Posaunen der vom Astralischen zum geistigen Zustand aufsteigenden Erdenmenschheit.
Die Zornschalen der vergeistigten Erde, die sich zum nächsten Planeten, dem Jupiter, hinüberentwickelt.
… Dem Inkarnationsprozess der sich ins Stoffgebiet verkörpernden Erdenmenschheit folgt der Exkarnationsprozess der sich wieder vergeistigenden Erdenmenschheit, der heute bereits begonnen hat, nachdem der tiefste Punkt der Verfestigung ins irdische überschritten ist.» (Poepping, Fred: Die Apokalypse des Johannes als Schulungsbuch, Verlag die Kommenden, Freiburg i. BR.)
So sehr mich diese Sicht überzeugt und besticht, habe ich meine Bedenken, zumal mich die Theologen belehrt haben, dass es hier immer nur um Vorzeichen zur Endzeit geht.
Doch als Bilder, welche die Endzeit einleiten, repräsentieren die Siebener-Zyklen doch eine gewisse Ganzheit, welche jeweils das Ganze der Schöpfung im Hinblick auf ein reinigendes Tun Gottes entfalten. Das Buch mit den sieben Siegeln in Gottes Hand ist die ganze Erdgeschichte, die Posaunen, die aus dem 7. Siegel entspringen, behandeln dieselbe Erdgeschichte aus dem Blick der Zwischenwelt, dem Altar zwischen Himmel und Erde. Die Posaunen haben etwas Aufweckendes. Als Bilder beim Gericht zeigen sie an, dass jetzt ein Aufwachen in andern Sphären und Werten angesagt ist.
Die Zornschalen zeigen eine weitere Stufe der Auflösung. Sie kommen aus dem innern des Tempels dienen dazu, Gott Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und alles Übel durch Strafen zu läutern und den Tempel rein und frei zu machen.
Doch wie weit dieses Schema im einzelnen Stand hält, muss anhand der einzelnen Bilder noch genauer analysiert werden.