Die Offenbarung des Johannes –
Geschichte und Wirkungsgeschichte

Um mich der Offenbarung des Johannes anzunähern, beginne ich mit einem allgemeineren Begriff, mit der Apokalyptik. Der Bochumer  Alttestamentler Jürgen Ebach hat sehr treffend gesagt, dass es sich dabei primär um eine Art „Stimmung“ in einer antiken Periode vor und nach Christi Geburt handelt. Eine Stimmung, die von dem Gefühl ausgeht, die Welt sei alt geworden und die Sünden der Menschen hätten überhand genommen. Gott werde in Kürze über diese Welt richten. Noch bestehe die Möglichkeit zur Umkehr und damit zur Rettung, aber bald sei es zu spät. Ein feuriges Gericht breche über diese Welt herein, vernichte die Bösen und entrücke die Guten in ein paradiesisches Reich, ob dieses nun jenseitig oder auf einer erneuerten Erde zu suchen sei.
Mit dieser apokalyptischen Stimmung steht nun eine zunächst jüdische Literaturgattung in Verbindung, die Apokalypsen. Diese Bücher stammen angeblich von grossen Männern der frühen Geschichtszeit, von Adam, Henoch, Baruch, Daniel oder Esra und diese alle hätten prophetisch darin niedergelegt, was in ferner Zukunft geschehen soll. Aber diese damals ferne Zukunft  sei jetzt, oder genauer: fast jetzt, sie stehe nahe bevor. Und wer die Bücher genau und gläubig liest, kann erfahren, was für grosse Zeichen und Gerichte bald geschehen werden, und er kann sich rechtzeitig darauf einstellen. In diese Literaturgattung gehört nun auch die christliche Offenbarung des Johannes, die in unserem Neuen Testament am Schluss steht. Auch hier ist vom nahen Gericht die Rede, auch hier werden die Guten und die Bösen scharf und endgültig getrennt, die einen gerettet, die anderen grausam vernichtet. Aber die Offenbarung des Johannes unterscheidet sich zugleich sehr deutlich. Sie erweckt nämlich nicht die Vorstellung, von einem Helden der Vergangenheit für die Jetztzeit verfasst zu sein, sondern ihr Verfasser lebte genau zu der Zeit, zu der sie tatsächlich verfasst wurde, um das Jahr 100 herum, eher etwas früher. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass er nicht Johannes hiess. Das einzige, was strittig ist, das ist, ob er derselbe Johannes ist, der auch das Evangelium und die drei Briefe verfasst hat. Sprachliche Untersuchungen zeigen, dass das eher unwahrscheinlich sei, aber eine Identität behauptet die Bibel ja auch gar nicht, sondern das ist eine spätere Tradition.
Was ist das nun für ein Buch, das dieser Johannes geschrieben hat, in was für eine engere Literaturgattung gehört es? Die neuere Forschung ist hier nahezu zu einer Einstimmigkeit gekommen, dass es sich nämlich um einen Brief, genauer um einen Rundbrief an sieben Gemeinden in Kleinasien handelt. Dieser Rundbrief enthält je einen speziellen Teil für eine einzelne Gemeinde, eines der meist so genannten Sendschreiben und dann einen allgemeinen Teil, der  mit Kapitel 4 beginnt. Das dürfte Ihnen durch Ihre Lektüre und durch die bisherigen Vorträge schon bekannt sein, aber es ist für das Gesamtverständnis ziemlich wichtig, dann nämlich, wenn wir uns fragen, was  der ganze Text beabsichtigt. Die 7 einzelnen Briefe richten sich, das ist schon längst aufgefallen, an Gemeinden aus dem Missionsgebiet des Paulus. Die Namen sind uns aus den Paulusbriefen bekannt. Warum schreibt Johannes gerade an paulinische Gemeinden? Etwa, weil er Paulus und seine Theologie besonders schätzt und fördern möchte? Es gibt einige Hinweise dafür, dass das Gegenteil der Fall ist. Paulus hatte seinen Gemeinde Hinweise gegeben, wie sie mit der umgebenden heidnischen Welt umgehen sollten, ein Problem war hier besonders das sog. Götzenoperfleisch. Es war Fleisch, das in den öffentlichen Markthallen verkauft wurde und bei dessen Schlachtung vor allem die Eingeweide für das Opfer im Tempel benutzt werden. Anderes Fleisch war nahezu nicht erhältlich. Paulus erklärte nun dieses Fleisch an sich für neutral, weil es die Götter ja nicht gebe, aber er riet vom Gebrauch ab, wenn jemand daran Anstoss nähme. Seine Entscheidung fiel also in den ethischen Bereich, aber er anerkannte nicht eine gleichsam magische Schädlichkeit dieses Fleisches. Ganz anders Johannes, für ihn ist in zweien der Sendschreiben der Gebrauch dieses Fleisches ein unentschuldbares Sakrileg und die  schlimmste Sünde, ähnlich wie Unzucht und Ehebruch. Dafür beruft er sich auf die unmittelbare Autorität Christi, den er ja als Verfasser dieser Sendschreiben darstellt. Damit richtet er sich direkt gegen die Regeln des Paulus. Und damit die Kompromisslosigkeit als allgemeines Gesetz deutlich wird, lässt er Christus an die Gemeinde von Laodicea schreiben, dass er sie wegen ihrer Lauheit, also wegen ihren Kompromissbereitschaft und fehlenden Radikalität,  ausspeien werde.
Wie kommt Johannes zu dieser Radikalität, die sich ja in den späteren Kapiteln, in den sehr grausamen Gerichtsschilderungen fortsetzen wird?  Es gibt darauf zwei Antworten, eine historische und eine , die nur vom Text her argumentiert.  Historisch gesehen fällt die Abfassung der Offenbarung in eine Zeit zwischen zwei Verfolgungen, in eine Zeit also, wo sich die Kirche in der Welt wieder leichter integrieren konnte. Dagegen will diese Schrift radikalisierend und polarisierend wirken, indem sie eine andere Perspektive auf die Gegenwart entwirft. Am deutlichsten wird diese Sicht der gegenwärtigen Situation der Welt im 12. Kapitel. Ich deute Ihnen den Inhalt schnell an, sie kennen alle, gerade aus katholischen Kirchen, bildliche Darstellungen. Eine Jungfrau auf einer Mondsichel und mit der Sonne bekleidet gebiert ein Kind und wird dabei von einem grossen Drachen verfolgt. Dieser Drache ist de Satan selber, das Prinzip des Bösen überhaupt. Sie birgt das Kind im Himmel bei Gott und flieht auf die Erde in eine Wüste. Daraufhin wird der Drache im Hímmel besiegt und stürzt auf die Erde. Seine Macht ist im Himmel gebrochen, aber auf de Erde ist ihm noch kurze Zeit gegeben um zu wüten, und er tritt ans Meer und lässt daraus ein weiteres Untier entstehen, das man leicht mit dem römischen Staat identifizieren kann und der damit als Kreatur des Satans verstanden wird.
Dieser Text ist religionsgeschichtlich vielschichtig, er spielt auf antike Mythen an, aber das ist hier nicht wichtig. Kein antiker Christ wäre im Zweifel gewesen, dass es hier um eine bildliche Darstellung der Bedeutung der Geburt des Messias, des Christus geht. Durch dessen Geburt ist die Macht des Teufels gebrochen. Jesus sagt ja einmal: Ich sah den Satan von Himmel fallen wie einen Blitz. Aber gerade durch dieses Heilsereignis ist seine Gewalt auf der Erde noch viel grösser geworden, denn der Satan hat sich für eine begrenzte Zeit auf die Erde zurückgezogen und lässt seine Wut an denen aus, die zur Jungfrau und damit zu Gott gehören. Diese Jungfrau ist einerseits Maria, vor allem aber die  christliche Kirche selber, die mit ihren Mitgliedern verfolgt wird.
Wir werden hier im 12. Kapitel mit einem zentralen theologischen Element der Offenbarung des Johannes konfrontiert, das uns, wenn wir von Jesus als dem Heiland und Friedensbringer sprechen, recht fremd ist. Die Verkündigung des Evangeliums bringt Gewalt in diese Welt. Am deutlichsten wird das in der Auslegung der vier apokalyptischen Reiter. Wir haben dabei zumeist den Holzschnitt von Dürer im Sinn, der uns diese Reiter als Inbegriff der widergöttlichen Mächte darstellt, die erbarmungslos über die Welt einherstürmen. In der modernen Befreiungstheologie wird diese Deutung noch dahingehend präzisiert, dass die Reiter der kapitalistische Gewaltstaat sind, der Zerstörung über die Welt bringt und die Lebensmittel verknappt und damit den Armen hungern lässt. Ich kann dieser Deutung eine gewisse theologische Sympathie nicht verweigern, nur ist der Text bis zur Reformation anders  und ich denke, richtiger ausgelegt worden. Der erste Ausleger, dessen Kommentar erhalten ist, Victorin von Pettau schreibt, der erste Reiter sei Christus oder das Wort Gottes, das dadurch, dass es auf die Welt kommt, die endzeitlichen Nöte erzeugt. Sie erinnern sich vielleicht an das Jesuswort, dass er nicht gekommen sei, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. In allem Darstellungen vor Dürer hält ein Engel einen Kranz über das Haupt des ersten Reiters und zeigt ihn damit als Christus an.
Wir müssen also im Sinn behalten, dass dem Worte Gottes und damit Christus selber eine gewisse Veranlassung zur Gewalt innewohnt. Zumindest kann man sagen, dass die Gewalttätigkeit der Welt durch dieses deutlichst zum Vorschein kommt. Aber Sie werden später sehen, dass das zu wenig ist.
Ich gehe jetzt von Kap. 12 zum Gesamttext über und rufe Ihnen einige der wichtigsten Abschnitte ins Gedächtnis. Das 4. Kapitel enthält die Vision des himmlischen Raums mit Gott, dem Lamm und den Ältesten. Es werden dann vom Lamm 7 Siegel der Buchrolle geöffnet, verbunden mit gewaltigen Zeichen. Darauf blasen 7 Engel sieben Posaunen, und hier folgen nun wirkliche Katastrophen, die einen Teil der Erde und des Himmels verwüsten, Vorher aber werden noch die Erwählten versiegelt, damit ihnen nichts geschehen kann.
Es folgt nach dem 12. Kapitel  die Erscheinung des grossen Tieres aus dem Meer, womit, wie ich schon erwähnte, der Staat, vor allem die römische Staat gemeint sein dürfte. Er ist dem Untergang geweiht. Sieben Zornesschalen werden ausgegossen und richten nochmals riesige Verwüstungen an. Er folgt eine Vision der Hure Babylon, eine recht deutliche Allegorie Roms oder der römischen Herrschaft, und deren Fall. Die Ankunft Christi mit grossen Heerscharen schliesst sich an. Dann wird der Satan gefesselt und im Abgrund verschlossen. Diese Verschliessung ist die Bedingung für  eine tausendjährige Herrschaft der Gerechten, die vor allem aus den Märtyrern gebildet werden.
Es gibt nun eine Auslegungstradition der Offenbarung, die besagt, dass die  in der Offenbarung bildhaft gezeigten Ereignisse auf geheimnisvolle Weise den tatsächlichen Ablauf der irdischen Geschichte abbilden. .Die sieben Posaunen etwa sind sieben aufeinander folgende Ereignisse innerhalb unserer Geschichte. Wenn man nur wüsste, mit welchem Textereignis die eigene Gegenwart korreliert, dann könnte man leicht nachlesen, wie es künftig weitergeht. So sind etwa die dämonischen Heere, die aus dem Abgrund nach dem Blasen der fünften Posaune aufsteigen, im 18. Jahrhundert auf die Eroberungen Napoleons gedeutet worden oder die heutigen amerikanische Fundamentalisten vermuten, dass die 200 Millionen, die bei der 6. Posaune auftreten, die Chinesen seien, die unsere westliche Welt bedrohen.  Leider ist man mit keiner dieser Zuweisung zu einer Übereinstimmung gekommen, so dass sich die Offenbarung nicht als verbindliche Prophezeiung unserer Geschichte benutzen lässt, obwohl so etwas in kleinen Gruppierungen immer noch passiert.
 Die Frage, die dabei die Ausleger leitet, hat eine doppelte Ausrichtung: erstens wie lange währt das Leiden in dieser Welt noch, und wie kann ich zu den Erwählten gehören, die es überstehen, und zweitens: wann kommt das Heil und wann kommt das definitive Ende dieser Gewalt? Nach der Aussage der Offenbarung gibt es zwei Stufen dieses endgültigen Heils, die erste ist das tausendjährige irdische Reich, in dem Gerechtigkeit herrscht und der Satan nicht mehr sein Unheil wirkt. Aber dieses irdische Reich ist noch zeitlich begrenzt und wird von einem paradiesischen Zustand abgelöst, der ewig dauern wird. Er trägt den Namen „Himmlisches Jerusalem“. Alle Fragen zielen auf das  „Wann?“
 Sie werden sich vielleicht verwundern, wenn Sie jetzt vor mir erfahren, dass die Frage nach der Geschichtstheologie der Offenbarung des Johannes  eine relativ neue ist. Jedenfalls gehört sie, mit einigen Ausnahmen ins zweite Jahrtausend und nicht  ins erste. Der schon genannte erste Ausleger  der Offenbarung, Victorin von Pettau, der noch ins dritte Jahrhundert gehört, hat dieses Buch nicht als fortlaufenden Geschichtsbeschreibung verstanden, sondern hat den Grundsatz aufgestellt, dass in diesem Buch dasselbe immer wieder neu, wenn auch in einem etwas anderen Lichte dargestellt werde. Man nennt das die „Rekapitulationstheorie“. Sie besagt, dass in den einzelnen aufeinander folgenden Abschnitten der Apokalypse immer wieder  dasselbe beschrieben wird. Man hat dann versucht, diese Abschnitte herauszufinden und zu nummerieren. Es wurden im Laufe der Zeit immer mehr, und ihre Zahl erreicht bei dem spanischen Kommentator des 9. Jahrhundes Beatus von Liebana etwa die Zahl 20. Sein umfangreicher Kommentar kann deshalb nicht umhin, zwanzigmal ungefähr dasselbe zu sagen und ist deshalb nicht gerade spannend zu lesen. Für Beatus sind die einzelnen Abschnitte keineswegs als fortlaufende Historie zu lesen, sondern sie analysieren immer und immer wieder sie Situation der Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit der Irrlehre innerhalb und der Ketzerei ausserhalb der Kirche, also das Jetzt und nicht die Vergangenheit oder die Zukunft. Dabei ist das Ende der Zeit für Beatus keineswegs fraglich, aber bis dahin passiert nichts Wesentliches, ausser, dass man sich vom rechten Glauben abwenden oder zu ihm zurückkehren kann.
 Diese Auffassung ist zwar etwas harmlos, aber vielleicht ist sie nicht ganz falsch. Sie entspricht durchaus der modernen  Auffassung, in der die mythischen Darstellungen in der Bibel nicht als reale Ereignisse verstanden, sondern auf die gegenwärtige Situation des Glaubenden und der Kirche bezogen werden. Einer solchen Interpretation, so überzeugend sie auch theologisch sein mag, steht nun ein Abschnitt  quer entgegen, jedenfalls scheint es so. Das ist die Verheissung eines tausendjährigen Reiches am Ende der Geschichte im 20. Kapitel, der ich mich im Rest meines Vortrags widmen werde. Ich lese Ihnen des Text aus einer wissenschaftlichen Übersetzung vor.  
„Und ich sah einen Engel vom Himmel herabsteigen, der hatte den Schlüssel des Abgrunds und eine große Kette in seiner Hand. Und er ergriff den Drachen, die alte Schlange, welche der Teufel und der Satan ist, und band ihn für tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund, schloss diesen zu und versiegelte ihn über ihm, damit er nicht weiterhin die Völker verführe, bis die tausend Jahre vollendet sind. Danach muss er für kurze Zeit wieder freigelassen werden.
Und ich sah Throne, und denen, die sich darauf setzten, wurde ihr Recht verschafft, und ich sah die Seelen derer, die um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen enthauptet worden waren und die nicht das Tier oder das Standbild angebetet hatten und nicht das Zeichen auf ihrer Stirn und ihrer Hand empfangen hatten. Und sie gelangten zum Leben und herrschten mit Christus tausend Jahre. Die übrigen Toten gelangten nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet sind. Dies ist die erste Auferstehung. Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teil hat. Über diese hat der zweite Tod keine Macht; vielmehr werden sie Priester Gottes und Christi sein und mit ihm tausend Jahre herrschen.“Wir finden hier ein irdisches Friedensreich, das etwa zur gleichen Zeit auch in einigen jüdischen Apokalypsen auftaucht. Die leitende Idee ist dabei, dass die Märtyrer, die auf der Erde gelitten haben, gleichsam zum Ausgleich noch die Gelegenheit erhalten, eine gerechte Welt zu regieren, deren Zeit aber begrenzt ist. Diese Vorstellung einer irdischen gerechten Welt hat in der frühen Christenheit viel Faszination, aber noch viel mehr Anstoss erregt. Diejenigen Autoren, die die Idee eines solchen diesseitigen Friedensreiches übernahmen, nannte man Chiliasten, und man warf ihnen vor allem in der Ostkirche, vor, dass sie eine Diesseitigkeit forderten, in der sie in Saus und Braus leben könnten. Vor allem die Idee, dass im künftigen Reich die Weinstöcke unendlich viel besten Weines spenden würden, galt als verwerflich. Zu den erwähnten Chiliasten gehörte auch der schon erwähnte Victorin von Pettau, und als Hieronymus diesen sonst unanstössigen Text redigierte, hat er die entsprechende Stelle einfach geändert. Erst Ende des 19. Jahrhunderts ist dann ein einzige Exemplar der Originalfassung wieder gefunden worden. Wann aber wird dieses Friedensreich Wirklichkeit werden? Es ist zukünftig, aber vermutlich nicht mehr sehr weit entfernt. Vielleicht gelingt es Ihnen nachzufühlen, dass eine solche Idee eines irdischen  Friedensreiches sowohl grossartig wie auch irritierend ist: was geschieht dann mit der Kirche, was mit dem Staat? Es war der westliche Theologe Augustin, der für das Problem des tausendjährigen Reiches eine Lösung gefunden hat,  die bis heute weitgehend anerkannt ist, nicht nur in der katholischen, sondern auch in den reformatorischen Kirchen. Das Reich von Apokalypse 20 ist nicht zukünftig, sondern gegenwärtig , es ist die Kirche und zwar natürlich die rechtgläubige und damit die katholische Kirche.  Diejenigen, die auf Thronen sitzen,  sind die Bischöfe und ihnen wird Gerichtsgewalt gegeben, wie es Augustin versteht, was sprachlich immerhin möglich ist. Allerdings war Augustin realistisch und theologisch klug genug, um zu wissen, dass dieses Friedensreich-Kirche noch nicht vollkommen ist und auch nicht sein kann. Es ist gemischt aus Gerechten und Verworfenen, und nur Gott weiss sicher, wer zu welcher Gruppe gehört. Zwar ist es die Aufgabe der Kirchenleiter, für die Reinheit der Kirche zu sorgen, aber diese Aufgabe ist nur begrenzt durchführbar. Das änderte sich später, vor allem im deutschen Kaisertum, in dem Kirche und christlicher Staat eng aufeinander bezogen wurden. Hier wurde es zur Aufgabe von weltlichem und geistlichem Schwert, die Kirche von allen Unreinen, und das heisst von allen Ungläubigen und Ketzern gewaltsam zu reinigen  und aus dem gemischten Körper eine vollkommene Christenheit zu erschaffen. Hier sehen Sie, wie die Gewalttätigkeit wieder auftaucht, die mit der alten Auslegung des ersten apokalyptischen  Reiters auf Christus schon angedeutet war.  Augustins Deutung des tausendjährigen Reiches auf die Kirche, in der Gerechtigkeit und Frieden herrscht, weil der Satan gebunden ist, blieb bis ins 12. Jahrhundert ziemlich unangefochten in Kraft. Der schon genannte Beatus von Liebana widmet dem Kapitel überhaupt nur wenige Seiten, denn es ist nur eine weitere Rekapitulation dessen, was schon in den früheren Kapiteln stand.
Im 12. Jahrhundert geschah etwas vollkommen Neues. Der Mönch Joachim von Fiore erhob seine Stimme und sagte, dass das tausendjährige Friedensreich keineswegs präsent sei, sondern erst noch komme. Es sei das „Dritte Reich“ des Geistes und der Mönche, das auf das Reich des Vaters und des Sohnes folge. Der Engel im 14. Kapitel des Offenbarung kündigte sein Kommen schon an, indem er ein ewiges Evangelium verkündet. Wenn dieses Evangelium ausdrücklich ewig genannt wird, heisst das, dass unser gegenwärtiges Evangelium nicht ewig, vielmehr nur vorläufig sei. Sie sehen, wie revolutionär dieser unscheinbare Vers ausgelegt wurde.Der Versuch, mit der Apokalypse Geschichtsepochen aufzuzeigen, wird mit der Entfaltung der Dreifaltigkeit begründet. Das Reich des Vaters war die alttestamentliche Zeit, das Reich des Sohnes war die Zeit der Kirche und der Kleriker, und nun folgt das Reich des Geistes als Vollendung der Geschichte. Wenn Sie Ecos „Namen der Rose“ gelesen haben und sich noch erinnern, dann kennen Sie die Bussrufe, die die Mönche verkündeten, und Sie wissen noch, wie sehr die Kirche diese Bewegungen bekämpfte, weil diese ein antiklerikales revolutionäres Potential hatten.
In der Reformation gab es eine Erneuerung dieser chiliastischen Gedanken, aber gerade nicht bei Luther und Zwingli, sondern bei den sog. Schwarmgeistern. Am bekanntesten ist hier Thomas Müntzer, der ein irdisches Gottesreich errichten wollte und dabei vor militärischer Gewalt nicht zurückschreckte. In der reformatorischen Tradition wurde dann die Lehre vom tausendjährigen Reich als ketzerisch verworfen, aber sie lebte weiter. Das tat sie einerseits bei den Wiedertäufern, die nicht zuletzt deshalb verfolgt wurden. Aber auch die Württembergischen Pietisten waren Chiliasten, und sie konnte man kaum verfolgen, weil sie sonst in Lebenswandel und Glaubensinhalt völlig orthodox waren. So ist es zu einer chiliastischen Tradition gerade in Württemberg gekommen, die dann jeweils wieder auf die Umgebung abgefärbt hat. Das Luthertum selber hat alle Vorstellungen abgelehnt, dass das Christentum auch etwas mit der Verbesserung unserer Gesellschaft zu tun haben könnte. Gericht und Heil richten sich nur auf den Einzelnen nach seinem individuellen Tod. Von daher ist gerade das Luthertum, viel mehr als die schweizerische reformierte Tradition, politisch eher konservativ, während der Pietismus in sich eine revolutionäre Kraft trägt. Die Aufnahme der Apokalypse in der Befreiungstheologie hat in dieser Lehre vom tausendjährigen Reich ihre tiefste Wurzel.
Ich erspare mir, Ihnen eine kontinuierliche Vorlesung über Kirchengeschichte zu halten, sondern gehe zu einem Schriftsteller des 18. Jahrhunderts über. Gotthold Ephraim Lessing teilt in seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechtes“ die Geschichte ebenfalls in drei Epochen ein. Die dritte Epoche ist für ihn die Zeit der Aufklärung. Er schreibt im § 85:
Nein, sie wird kommen, sie wird gewiss kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.
Hierauf zielt die Erziehung, die Gott dem Menschengeschlecht angedeihen lässt und die zugleich das Ziel für jeden einzelnen Menschen ist: das Gute um des Guten willen zu tun, und dieses nicht wegen äußerer Belohnungen. Das Alte und das Neue Testament hätten ihre Zeit in der Kindheit und Jugend des Menschen gehabt, im dritten Zeitalter seien die Menschen erwachsen geworden oder würden es sein können. Vielleicht seien solche Gedanken Spekulationen, aber sie zu verbieten, sei Tyrannei über die Menschen. Und an dieser Stelle erwähnt Lessing auch Joachim von Fiore und seine drei Zeitalter, und er nennt ausdrücklich auch die „Einführung ins ewige Evangelium“ der radikalen Franziskaner, ein Buch, das im Mittelalter als eines der schlimmsten Ketzerbücher verfolgt wurde. Bei Eco finden Sie in der Gestalt des Fra Dolcino ein Echo auf diese radikale Bewegung. Aber Lessing liegt es fern, Joachim zu verdammen. Was ihn zu einem Schwärmer gemacht habe, das sei nur seine Ungeduld gewesen:
Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft, aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleuniget und wünscht, dass sie durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soll in dem Augenblicke seines Daseins reifen. (§ 90)
Wir haben bei Lessing die Verbindung einer Hoffnung auf eine Zukunft eines Reiches der Vernunft, in dem das Gute um des Guten willen getan wird, und wir sehen bei ihm deutlich die Geduld, mit der er die Erziehung des Menschengeschlechtes durch Gott zu diesem Ziele verfolgt. Wann aber beginnt für ihn dieses dritte Zeitalter? Es hat schon begonnen mit der Aufklärung, dadurch dass Menschen in sich selber die Fähigkeit zum Guten erkennen und wissen, dass sie von einem fremden Befehl unabhängig sind.
Lessings Schrift wird zu einer der Grundschriften des Deutschen Idealismus. Schelling sieht in ihm und dann auch nicht zuletzt in den Vorlesungen, die er selber hält, den Anbruch des Reiches des Geistes. Hegel interpretiert in einem Dreischritt den Ablauf der menschlichen Geschichte als eine Geschichte der Verwirklichung des Geistes, und wenn Marx die Hegelsche Deutung umkehrt und nicht die Geschichte des Geistes, sondern die der ökonomischen Verhältnisse als primär versteht, dann verbleibt er doch im Dreierschema des Joachim. Wir sehen bei ihm und seinen Nachfolger aber auch wiederum die radikale Ungeduld, mit der nicht mehr auf das Erscheinen des Reiches gewartet wird, sondern es herbeigezwungen werden soll. Die alte revolutionäre Gestalt kommt wieder zum Vorschein, und der neue „Geist“ des dritten Zeitalters richtet sich gegen die Götter der Vorzeit und auch gegen den christlichen Gott. Das dritte Zeitalter ist auch kein vorläufiges mehr, sondern es ist das endgültige Reich menschlicher Gerechtigkeit. Es ist das zugleich das goldene Zeitalter und das Friedensreich des Augustus, auf deren Wiederkehr die Antike hoffte. Ich denke, dass von daher der Enthusiasmus verständlich ist, mit dem die frühen religiösen Sozialisten an ihre revolutionäre Arbeit gingen. Sie kannten damals nicht den schlimmen Ausgang, und Christen erhofften von der russischen Revolution, dass von ihr ihre eigene Hoffnung auf ein irdisches Reich der Gerechtigkeit erfüllt würde. In Russland dichtete Alexander Block im Jahre 1918 ein Epos mit dem Titel „Die Zwölf“, in dem er Christus als geheimen Anführer der russischen Revolution darstellte. Wenig später wurde er bereits von den Bolschewiken verfolgt und musste fliehen.
Allerdings nahm die Rede vom dritten Zeitalter noch einen zweiten Weg. Joseph Goebbels nannte das Reich Hitlers ebenfalls das „Dritte Reich“. Das war zunächst zwar politisch gemeint, aber es klang doch als Konnotation die alte joachimitische Vorstellung eines endgültigen Reiches an. Nur war hier an die Stelle des Geistes die germanische Rasse getreten, und der revolutionäre Impuls endete in einem Blutbad, das leider in der Apokalypse des Johannes bereits vorgezeichnet ist. Nur war es hier im Text noch eine Phantasie, dort im Hitlerreich wurde es Wirklichkeit.
Sie werden sich in dieser Vorlesungsreihe vermutlich immer wieder fragen, ob die Apokalypse in die christliche Bibel gehört und ob die Ostkirchen nicht recht hatten, die sie bis ins 4. Jahrhundert nicht im biblischen Kanon sehen wollten. Meine Antwort ist nicht eindeutig. In der Tat hat die beispiellose Brutalität der Gottesgerichte, die im Text geschildert werden, verhängnisvoll gewirkt, weil sie schuldentlastend  und vorbildlich für menschliches Handeln wurden, das angeblich im Namen Gottes geschah. Der Text lebt von Feindbildern und von kompromissloser Polarisierung. Aber es gibt Situationen, in denen diese Sicht nötig ist, um sich nicht korrumpieren zu lassen. In diesem Sinne hat die Schrift eine heilsame Wirkung im deutschen Dritten Reich getan, wo sie Bekennenden Christen die Möglichkeit gab, gegenüber der Diktatur und dem Terror die richtige Sprache und die richtigen, nämlich satanische Bilder zu finden. Für die Beschreibung der Wirklichkeit der Verhältnisse im heutigen Mitteleuropa ist sie glücklicherweise ungeeignet, obwohl es immer Gruppierungen geben mag, die ihre Situation darin finden mögen.
Positiv ist zum Text zusagen, dass er die Idee einer innerweltliche Hoffnung aufwahrt hat. Deshalb konnte sich Jürgen Moltmann mit seiner „Theologie der Hoffnung“ immer wieder auf die Apokalypse berufen, durchaus mit Recht. Aber die Utopie der Offenbarung darf nie zu einem eins zu eins durchzusetzenden politischen Programm. etwa für einen Gottesstaat werden. Auf dem Weg dorthin entlädt sich jeweils die Gewalt, von der der Text etwas zu positiv redet. Im nächsten Vortrag werden Sie darüber vermutlich einiges hören. Die Offenbarung kann, wenn sie behutsam und verantwortlich benutzt wird, gleichnishaft aufzeigen, dass die gegenwärtige Wirklichkeit nicht Gottes letzter Wille sei, sondern dass es in unserer Verantwortung liege, diese Welt  vom anbrechenden und künftigen Gottesreich her zu sehen und dabei mitzuwirken, dass schon jetzt von der verheissenen Gerechtigkeit etwas mehr wirklich und sichtbar wird.

Hartmut Raguse, St. Gallen 19. 2. 2007